zur Erinnerung

Mauerfall 09.11.1989 - und was dann?

"Kalter Krieg" am Gartenzaun Die Deutsche Einheit und der Grundsatz "Rückgabe vor Entschädigung"

Stand: 09. Dezember 2020, 13:36 Uhr

Rückgabe vor Entschädigung: Es war dieser Grundsatz, der viele Ostdeutsche nach der Wende jäh aus ihrem Freudentaumel riss. Denn auf einmal drohte ihnen nichts weniger als der Verlust ihrer Häuser und Grundstücke.

Mit dem Fall der Mauer 1989 konnten die DDR-Bürgerinnen und Bürger jederzeit in den Westen reisen. Viele Westdeutsche kamen auch in den Osten. Allerdings nicht nur, um die "liebe Verwandtschaft" zu besuchen: Alteigentümer gingen stattdessen in die Grundbuchämter, um ihren Anspruch auf ehemaliges Eigentum im Osten geltend zu machen. "Rückgabe vor Entschädigung", heißt es im Einigungsvertrag. Konflikte waren vorprogrammiert.

In den Liegenschaftsämtern der DDR herrschte Ende 1989 Hochbetrieb.
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Kurz vor Weihnachten 1989 klingelte bei Familie Türke in Falkensee ein Mann aus West-Berlin an der Tür. Er sagte, er sei der Eigentümer sowohl des Grundstückes als auch des Einfamilienhauses und forderte Familie Türke unmissverständlich zum baldigen Auszug auf. Er hätte auch schon einen Rechtsanwalt mit dem Fall beauftragt, erklärte der Besucher forsch. Für die Türkes stürzte in diesem Augenblick eine Welt zusammen. Seit 25 Jahren lebte die große Familie in dem Haus. Ihre Miete von 100 DDR-Mark zahlten sie an die kommunale Wohnungsverwaltung. Mit einem Eigentümer aus dem Westen hatten sie nie und nimmer gerechnet. An ein Gespräch war damals nicht zu denken. Im Gegenteil. Am Gartenzaun eskalierte der Streit. "Es war ein ganz fieser Kerl. Arrogant bis zum Geht-nicht-mehr", erinnert sich Frau Türke. "Mein Eigentum, mein Eigentum! Alles, was wir gesagt haben, war nicht wichtig."

"Rückgabe vor Entschädigung"

Eva Türke lebte mit ihrer Familie 25 Jahre in einem Einfamilienhaus in Falkensee, bis Weihnachten 1989 der Alteigentümer seine Ansprüche geltend machte.
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Wie Familie Türke in Falkensee erging es Anfang der 1990er-Jahre Zehntausenden Bürgern in Ostdeutschland. Solange Bundesrepublik und DDR nebeneinander existierten und ein vereinigtes Deutschland außerhalb jeder Vorstellung lag, waren Grundstücke und Immobilien in der kleinen sozialistischen Republik für die einstigen Besitzer nur noch eine ferne Erinnerung. Dann aber fiel die Mauer. Und die alten Besitztümer waren plötzlich wieder verfügbar. Mit einem Schlag waren nun auch im Osten Besitzverhältnisse wieder von Bedeutung. Die Bundesregierung ermutigte die Menschen in der DDR und vor allem in der Bundesrepublik bereits Anfang 1990 geradezu, ihre einstigen Besitztümer in Ostdeutschland rasch zurückzufordern. Die Ostdeutschen freilich lernten erst allmählich die Regeln des großen "Monopoly"-Spiels.

Regelung offener Vermögensfragen im Zuge der Deutschen Einheit

Im Zuge der Wiedervereinigung einigten sich beide deutschen Staaten in einer gemeinsamen Erklärung vom 15. Juni 1990 über das Verfahren zur Regelung der offenen Vermögensfragen. Am 29. September 1990 verabschiedete die Volkskammer der DDR das sogenannte Vermögensgesetz. In ihm wurden die Ansprüche enteigneter oder durch staatliche Verwaltung in ihrer Verfügungsbefugnis beschränkter Eigentümer geregelt. Nach dem Vermögensgesetz galt - getreu der Vorgabe aus Bonn - prinzipiell der Grundsatz "Rückgabe vor Entschädigung". Sofern eine Rückgabe nicht möglich war, etwa wenn sich eine öffentliche Straße oder ein öffentliches Gebäude auf dem fraglichen Grundstück befanden, konnte stattdessen für den erlittenen Vermögensverlust eine Entschädigung geleistet werden. Das war der Startschuss für den großen Beutezug auf Immobilien und Grundstücke im Osten.

Ost und West standen sich unversöhnlich gegenüber
Gefragte Ost-Immobilie in Kleinmachnow bei Berlin
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In den folgenden Jahren standen sich nun alte und neue Eigentümer von Grundstücken und Immobilien mehr oder weniger unversöhnlich gegenüber. Die einen verlangten vehement ihren enteigneten Besitz zurück, die anderen wollten ihr mitunter jahrzehntelang gepflegtes Einfamilienhäuschen nicht einfach so hergeben. Sie waren verbittert. Ihre Wut richtete sich zuerst gegen die Alteigentümer, die meist aus dem Westen kamen. Doch auch die Bundesregierung in Bonn wurde scharf angegriffen. Für Wolfgang Thierse, damals stellvertretender SPD-Vorsitzender, führte die "bornierte Eigentumsideologie" der Bundesregierung "zur Spaltung" der Menschen in Ost und West. "Kleinmachnow bewaffnet sich gegen Wessis" - so war 1991 ein Foto in einer Boulevardzeitung betitelt, das einen Mann mit einer Kalaschnikow im Garten seines Einfamilienhauses zeigte.

"Rückgabe vor Entschädigung": großer Fehler bei der Verwirklichung der Einheit
Kalter Krieg am Gartenzaun: Hausbewohnerin und Alteigentümer 1989 in der DDR
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In den ostdeutschen Liegenschaftsämtern stöhnten die Mitarbeiter über die gewaltige Flut von Rückgabe-Anträgen. Alles in allem gingen mehr als zwei Millionen Anträge auf Rückübertragung ein. In aller Eile wurden in Bonn immer neue Gesetze und Verfügungen erlassen, um die Antragsflut irgendwie bewältigen zu können. Vergeblich. Die Bearbeitung der Anträge sollte Jahre in Anspruch nehmen. Juristen wiesen bereits damals darauf hin, dass der Grundsatz "Rückgabe vor Entschädigung" einer der großen Fehler bei der Verwirklichung der Einheit Deutschlands darstellte.

Den Kalten Krieg am Gartenzaun verloren

Familie Türke in Falkensee verlor damals den Kalten Krieg am Gartenzaun. Nur wenige Wochen nach dem überraschenden Besuch des Alteigentümers mussten sie aus ihrem Einfamilienhaus ausziehen. Immerhin bekamen sie für ihre in den vielen Jahren geleisteten Umbau- und Renovierungsarbeiten in einem Vergleich 65.000 D-Mark zugesprochen. Nur wenige Kilometer von ihrem einstigen Wohnort entfernt, bauten sie sich einige Jahre später ein eigenes Haus. Und zwar auf eigenem Grund und Boden.


MDR Zeitreise


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